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Wenn die Angst mitreitet
Reiten ist Kopfsache – Hilft Mentaltraining bei Problemen?
„Meine Stute hat mich mehrmals abgesetzt.“, berichtet eine Teilnehmerin zu Beginn des Kurses auf dem Rittergut Eckersdorf. „Ich habe alles versucht, auch mit meiner Trainerin, aber es kam immer wieder zu gefährlichen Situationen. Bald bin ich gar nicht mehr ins Gelände geritten, dann auch nicht mehr auf dem Platz.“ Schließlich habe sie sogar überlegt, das Pferd abzugeben.
Dr. Claudia Nebel-Töpfer, die sich ihr erstes Pferd während des Studiums kaufte, kennt das Problem aus eigener Erfahrung. „Ich hatte Pascal vom Züchter und die ersten Jahre waren wirklich hart. Meine Vorstellung von der Reiter-Pferd-Beziehung stimmte irgendwann nicht mehr mit der Wirklichkeit überein. Auch ein durchaus kompetenter Reitlehrer oder Trainer kann da oft nicht weiterhelfen, da er zwar auf das Pferd einwirkt aber dadurch kaum die Ängste beim Reiter abbaut.“
Denn ein Trauma, das oft nach einem Reitunfall entsteht, verarbeitet sich nicht so einfach. Die Angst bleibt im Kopf und bremst die Leistungsbereitschaft und die Freude beim Reiten. Viele Trainer verlangen dann oft von ihren Schülern, sich „zusammenzureißen“ – fatal, denn Pferde haben einen feinen Sinn für diese Widersprüchlichkeit. Ist der Trainer dann einmal nicht dabei, kommt die Angst meist mit voller Wucht zurück. „Unser Gehirn speichert die Situationen ab, in denen man vom Pferd gefallen ist. Reiten wir dann den gleichen Feldweg entlang oder auf dem Platz einen Springparcours, haben wir wieder den gleichen Stress. Das ist ein Teufelskreis.“, erklärt die Psychologin. Eine ihrer Teilnehmerinnen konnte irgendwann das eigene Pferd nicht einmal mehr führen, ohne ein flaues Gefühl im Magen zu haben.
Kleine Bewegungen gegen die Angst
Normalerweise verarbeitet das Gehirn negative Situationen im Schlaf, in der sogenannten REM-Phase (Rapid Eye Movement). Körperlich tut sich hier so einiges. Unsere Augen beginnen, sich unter den geschlossenen Lidern ruckweise hin und her zu bewegen. Der Blutdruck steigt an und Herzfrequenz und Atmung werden unregelmäßig. Es wird vermutet, dass während dieser Schlafphase aufgenommene Informationen zum Teil im Langzeitgedächtnis gespeichert werden.
Um die mit den Angst-Situationen beim Reiten verknüpften negativen Informationen „umzupolen“, nutzt Dr. Claudia Nebel-Töpfer eine spezielle Kurzzeittherapie bei ihren Kursteilnehmern. Beim sogenannten wingwave-Coaching werden durch schnelle Fingerbewegungen, denen die Teilnehmer mit den Augen folgen, wache Schlafphasen erzeugt, die der REM-Phase im Schlaf ähneln sollen. Das hat nichts mit Hypnose oder ähnlichem zu tun, sondern gründet auf einer Methode, die von amerikanischen Psychotherapeuten entwickelt wurde, um schwer traumatisierten Patienten zu helfen. Das „wing“ in der Wortkombination steht für den Flügelschlag eines Schmetterlings und bedeutet, dass mit einem kleinen Auslöser punktgenau eine große Wirkung hervorgerufen werden kann. Mit dem Wortteil „wave“ ist der englische Begriff "brainwave", Geistesblitz oder auch Einfall, gemeint.
„Indem ich wingwave einsetze, hole ich bei den Teilnehmern Erinnerungen hervor, mit denen innere Einstellungen verknüpft sind. Durch die Fingerbewegungen werden beiden Hirnhälften stimuliert. Zuerst habe ich die Methode bei meinen Führungskräfteseminaren angewendet, dann aber gemerkt, dass sich das auch super fürs angstfreie Reiten einsetzen lässt.“, erklärt die erfahrene Kommunikationstrainerin. Wir sind gespannt und auch etwas skeptisch. So wenig Aufwand und danach soll man angstfreier aufs Pferd steigen?
Bevor unser Coach mit dem eigentlichen „Winken“ der Finger beginnt, sprechen wir ausführlich über die Gründe für die Angst und bestimmen Reizwörter, die bei uns ein ängstliches oder ungutes Gefühl in Verbindung mit dem Pferd auslösen. Das macht Dr. Nebel-Töpfer mit dem „O-Ring-Test“. Dabei formt man Zeigefinder und Daumen zu einem Ring und drückt sie so fest zusammen wie möglich. Dann nennt sie verschiedene Wörter, unter denen sich auch die persönlichen „Angstwörter“ befinden, und zieht am Finger-„Ring“. Am Grad der Öffnung der Finger kann sie feststellen, welche Wörter am meisten Stress in uns auslösen. Bei dem einen ist es „Galopp“, beim anderen „Aufsteigen“, „Oxer“ oder allein der Name des eigenen Pferdes.
Schmetterlinge im Bauch statt Stress
Nun geht’s für die erste Teilnehmerin ins Einzelcoaching, während wir anderen uns mit dem persönlichen Angstwort kreativ beschäftigen. Es gibt wingwave-Entspannungsmusik auf die Ohren, jeder darf sich mit Stiften auf einem Blatt Papier austoben und sich dabei das Wort „schön malen“. Als wir fertig sind, kommt die erste Teilnehmerin gelöst und entspannt aus dem Raum und berichtet: „Erst war es ein wenig komisch. Ich habe fast nichts gemerkt. Dann plötzlich, wie verschiedene Bereiche im Körper anspringen.“ Schließlich habe sie sogar bei der Nennung des Angstworts ein Glücksgefühl verspürt, hatte sprichwörtlich Schmetterlinge im Bauch. Das sei ein Ressourcenerlebnis gewesen und recht selten bei einer ersten Sitzung, meint die Psychologin. Normalerweise kommen die Reiter drei bis fünfmal zu ihr, bis große Probleme verarbeitet sind.
Bei meiner wingwave-Sitzung mit Dr. Claudia Nebel-Töpfer registriere ich zuerst, wie anstrengend es ist, ihr mit den Augen zu folgen, während sie mit zwei Fingern von einer Seite zur anderen winkt, und gleichzeitig dabei an mein Angstwort „Oxer“ zu denken. Auf einer Checkliste geht sie verschiedene Bereiche durch und testet, wie ich reagiere. Dabei dringen wir immer tiefer zum Kern des Problems vor. Mein eigentlicher Stress beim Springen ist nicht mit dem Hindernis „Oxer“ verknüpft, sondern mit einem damaligen Trainer. „Da ist Trauer und Wut.“, stellt sie fest – und hat recht. Das überfordernde Springtraining ist zwar schon Jahre her, beschäftigt mich aber unterbewusst anscheinend immer noch, was zu Blockaden im Parcours führt.
Zum Schluss gibt die Mentaltrainerin noch einige Tipps, wie man sich vor einer solchen Stress-Situation selbst beruhigen kann: Indem man zum Beispiel mit zwei Fingern jeder Hand rhythmisch auf die Oberschenkel oder den Pferdehals klopft. Oder die wingwave-Musik beim Reiten über MP3-Player anhört (Link App-Store). Und, ganz wichtig: Immer mit Humor reiten! „Hat man das Problem erst einmal erkannt, wird man sich ganz schnell mit dem eigenen Pferd physisch, mental und emotional weiterentwickeln.“, sagt Dr. Claudia Nebel-Töpfer.
„Winken“ am Pferd
Bei tiefergelagerten Angst-Problemen wie Stürzen oder Lampenfieber vor dem Turnierstart bietet Claudia Nebel-Töpfer das Coaching auch direkt am Pferd an. Bevor die Teilnehmer in die angstauslösende Situation gehen, hilft sie ihnen vor Ort, mental fit dafür zu sein. So konnten erst kürzlich zwei Kurs-Teilnehmer mit ihrer Unterstützung wieder an einem Turnier teilnehmen und sogar erste Siege und Erfolge in den Western-Disziplinen Trail und Reining erlangen.
Ob das wingwave-Coaching auch uns in konkreten Angst-Situationen weiterhilft, werden wir bald vom Pferderücken aus testen können. Am 21. September kommt Dr. Claudia Nebel-Töpfer nach Leipzig und coacht interessierte Reiter auf dem Hof in Kleinliebenau.
Wir sind natürlich mit Finish und Dynamic dabei und berichten hier, wie es sich anfühlt. Wer sich auch für den Wochenendkurs anmelden möchte, findet alle Infos dazu auf der Facebook-Seite von Equinnsicht. Dort stehen auch die Termine für die nächsten Mentaltrainings zum Schwerpunkt Angst auf dem Rittergut Eckersdorf.
Weitere Hintergrundinfos zur Therapie basierend auf der "Macht der Augenbewegungen" (EMDR) findet ihr auf dem umfangreichen Erfahrungs-Blog von Andreas Humbert: www.meinwegausderangst.de
Fotos: Sanni Weber Photography
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